Die bisher größte genetische Studie zu psychischen Erkrankungen bestätigt, was Forscher schon lange vermutet haben: Die meisten psychiatrischen Störungen sind nicht isoliert, sondern weisen erhebliche genetische Überschneidungen auf. Eine neue Analyse von über einer Million Teilnehmern zeigt, dass 14 Haupterkrankungen in fünf verschiedene genetische Kategorien eingeteilt werden können, was auf gemeinsame biologische Wege hindeutet, die Behandlungsansätze revolutionieren könnten.
Gemeinsame Gene, gemeinsame Mechanismen
Die in Nature veröffentlichte Studie identifiziert fünf überlappende genetische Faktoren bei Erkrankungen wie Anorexie, Schizophrenie und Substanzabhängigkeit. Dies bedeutet, dass genetische Varianten, die mit einer Störung verbunden sind, häufig auch mit anderen verknüpft sind. Beispielsweise treten Anorexia nervosa, Zwangsstörungen (OCD) und das Tourette-Syndrom genetisch zusammen, was auf zugrunde liegende biologische Ähnlichkeiten hinweist.
Experten sind sich einig, dass dieser Befund nicht überraschend ist. „Die gemeinsame Genetik zwischen Schizophrenie und bipolarer Störung hat uns bereits in diese Richtung gewiesen“, sagt Dr. Chunyu Liu, ein Psychiater, der nicht an der Studie beteiligt ist. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass die Ausrichtung auf diese gemeinsamen Mechanismen zu Behandlungen führen könnte, die bei mehreren Erkrankungen wirksam sind, anstatt isolierte Therapien zu entwickeln.
Jenseits der Genetik: Umwelt ist wichtig
Allerdings sind Gene kein Schicksal. Die Studie beleuchtet auch das Zusammenspiel von Genetik und Umweltfaktoren. Viele mit psychiatrischen Störungen verbundene Varianten beeinflussen auch Merkmale wie Intelligenz, Schlafmuster, Aggression und sogar sozioökonomischen Status. Diese Komplexität ist besonders relevant für Präimplantations-Gentests (PGT), bei denen Embryonen auf Risikobewertungen untersucht werden.
Der Genetiker Abdel Abdellaoui argumentiert, dass diese Untersuchungen nicht eindeutig sind: „Das Tragen bestimmter Merkmale ist keine Garantie dafür, dass eine Störung auftritt.“ Viele psychiatrische Erkrankungen entstehen am äußersten Ende der natürlichen genetischen Variation und werden durch negative Lebenserfahrungen ausgelöst. Dies deutet darauf hin, dass psychische Erkrankungen nicht einfach nur eine „defekte Biologie“ sind, sondern das Ergebnis einer genetischen Veranlagung in Kombination mit Umweltstress.
Die fünf genetischen Cluster
Die Forscher gruppierten die 14 Erkrankungen in fünf genomische Faktoren:
- Zwanghaft: Anorexie, Zwangsstörung, Tourette
- Neuroentwicklung: Autismus, ADHS
- Internalisierend: Depression, PTBS, Angstzustände
- Substanzkonsum: Alkohol-, Cannabis-, Nikotin- und Opioidabhängigkeit
- Schizophrenie-bipolar
Jeder Cluster weist eine einzigartige biologische Aktivität auf. Beispielsweise sind am schizophrenie-bipolaren Faktor Gene beteiligt, die in Neuronen, die für die Realitätswahrnehmung verantwortlich sind, hochaktiv sind, während der internalisierende Faktor glia, die Stützzellen des Gehirns, betrifft, was auf einen anderen zugrunde liegenden Mechanismus hindeutet als bisher angenommen.
Korrelation vs. Kausalität: Ein Wort der Vorsicht
Trotz dieser Erkenntnisse mahnen Experten zur Vorsicht. Dr. Liu betont, dass statistische Assoziation nicht gleich Kausalität ist. Die Studie identifiziert Zusammenhänge, es sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich, um direkte mechanistische Rollen für bestimmte Gene nachzuweisen. Mit anderen Worten: Nur weil ein Gen mit einer Störung korreliert, bedeutet das nicht, dass es diese verursacht.
Letztendlich bestärkt diese Studie die Idee, dass psychiatrische Störungen komplexe Erkrankungen sind, die sowohl von der Genetik als auch von der Umwelt beeinflusst werden. Durch das Erkennen gemeinsamer genetischer Pfade können Wissenschaftler zu wirksameren, breit angelegten Behandlungen übergehen. Um das Gesamtbild zu verstehen, muss jedoch die entscheidende Rolle individueller Erfahrungen und externer Faktoren anerkannt werden.















